Afghanistan – Menschen in Not

Appell

Die erschütternden und hoffnungslosen Bilder aus Afghanistan nach dem Tag der
gewaltvollen Machtübernahme der Taliban sind wieder aus den Medien und so auch aus
unserer Wahrnehmung verschwunden. Doch die Situation bleibt lebensgefährlich und
entwickelt sich zu einer humanitären Katastrophe.
Die Arbeiterwohlfahrt fordert daher eine schnelle und unbürokratische Hilfe für Afghan*innen
und appelliert an die neue Bundesregierung:

   - ein humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes für besonders gefährdete
     Personengruppen aus Afghanistan einzurichten
   - Landesaufnahmeprogramme für gefährdete Familienangehörige (auch
     außerhalb der Kernfamilie) von in Deutschland lebenden Afghan*innen
     einzurichten bzw. das hierzu erforderliche Einvernehmen des Bundes zu
     erteilen
   - zur Entlastung der Nachbarstaaten Afghanistans zusätzliche Aufnahmeplätze
     für Afghan*innen im Rahmen des deutschen Resettlement-Programms zur
     Verfügung zu stellen
   - einen schnellen, unbürokratischen Familiennachzug zu in Deutschland
     lebenden Schutzberechtigten und die dazu notwendige Einrichtung von
     Familiennachzugsverfahren an allen deutschen Auslandsvertretungen in der
     Region sicherzustellen

Hintergrund:
Die Lage in Afghanistan ist seit Jahren desolat und mit der Machtübernahme der Taliban
eskaliert. Menschen werden gefoltert, getötet, die Frauenrechte massivst eingeschränkt und
Wirtschaftsexpert*innen warnen vor einem Wirtschaftskollaps in den nächsten Monaten. Die
Situation für die Betroffenen vor Ort ist katastrophal und eine behördliche Infrastruktur steht
nicht zur Verfügung. Jetzt sind rasche Entscheidungen und Handlungen der internationalen
Staatengemeinschaft gefragt – vor allem aber der Länder, die in den letzten Jahrzehnten
Militäreinsätze in Afghanistan durchgeführt haben. Deutschland muss den Menschen vor Ort,
die für deutsches Militär, Behörden, Subunternehmen und aus Deutschland finanzierte
NGOs gearbeitet haben, schnellstmöglich die Ausreise und eine Aufnahme in Deutschland
ermöglichen. Das Gleiche gilt für ihre ebenfalls gefährdeten Familien und Angehörigen sowie
Richter*innen, Journalist*innen und Menschenrechtler*innen. Sie alle sind unübersehbaren
Gefahren ausgesetzt und haben eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch
die Taliban zu befürchten.
Bundesweit erreichen unsere Migrationsfachdienste unzählige Hilferufe von Menschen
afghanischer Herkunft, die sich um sich selbst oder ihre Familienangehörigen in Afghanistan
und in den Nachbarstaaten sorgen. Viele Angehörige fühlen sich hilflos angesichts der
unüberschaubaren Sicherheitslage in Afghanistan sowie aufgrund der Intransparenz
deutscher Aufnahmezusagen und Evakuierungen oder sonstiger Möglichkeiten, das Land
sicher zu verlassen. Auch das Familiennachzugsverfahren ist für in Deutschland lebende
Afghan*innen sowie für die Menschen vor Ort intransparent, kompliziert oder erst gar nicht
zugänglich. Da die deutsche Botschaft in Afghanistan geschlossen ist, müssen die
Familiennachzügler*innen zunächst in die Anrainerstaaten kommen, um dort bei einer
deutschen Botschaft vorzusprechen. Eine Ausreise aus Afghanistan ist aber in den meisten
Fällen durch die Kontrolle der Taliban und/oder aufgrund fehlender Reisepässe unmöglich.
Angesichts dieser Situation müssen Vereinbarungen mit den Nachbarländern Afghanistans
getroffen werden, um gefährdeten Personen eine gesicherte Einreise in diese Länder und
die Weiterreise nach Deutschland zu ermöglichen. Die neue Bundesregierung muss sich
dafür einsetzen, dass gefährdete Menschen die Nachbarstaaten sicher erreichen können.
Visaverfahren zur Familienzusammenführung müssen nun priorisiert sowie zügig und unter
Ausschöpfung aller Ermessenspielräume umgehend bearbeitet und entschieden werden. Zur
Vermeidung gefährlicher Reisen muss die Visaantragstellung auch digital möglich sein.
Zusätzlich müssen die Kapazitäten der deutschen Auslandsvertretungen in der Region
massiv ausgebaut werden, damit Visa für afghanische Staatsangehörige zügig ausgestellt
werden können (sogenannte „Globalzuständigkeit“). Bürokratische Hürden müssen
angesichts der dramatischen Situation abgebaut werden: Anforderungen an Dokumente
müssen reduziert – z.B. abgelaufene Reisepässe sollten als Identitätsnachweis
berücksichtigt werden und zur Ausreise ermächtigen – und von den
Erteilungsvoraussetzungen wie Sprachnachweisen muss abgesehen werden. Zudem muss
der Tatbestand der „außergewöhnlichen Härte“ großzügig ausgelegt werden, um den
Familiennachzug weiterer Angehöriger – etwa erwachsener lediger Kinder – zu ermöglichen.
Grundsätzlich muss die Zahl der Resettlementplätze für 2022 erhöht werden und für
Afghan*innen bereit stehen, um den hohen Gefahren einer illegalen Flucht entgegen zu
treten und sichere und legale Fluchtwege zu eröffnen. Zusätzlich müssen humanitäre
Aufnahmeprogramme ausgebaut und verstetigt werden.
Unsere Beratungsdienste sind täglich mit dem unfassbaren Leid und der Sorge der in
Deutschland lebenden Afghan*innen um ihre Angehörigen befasst. Dieses Leid und die
Sorge lassen auch unsere Berater*innen vor Ort verzweifeln, da es keinen Trost oder
Lösungen gibt. Gleichermaßen erklären unsere Dienste ihre Bereitschaft, Afghan*innen, die
bereits in Deutschland sind und noch ankommende Afghan*innen mit ihrer großen fachlichen
Expertise und umfassenden Netzwerken zu unterstützen. Gleichzeitig gibt es aus den
Bundesländern starke Signale der Bereitschaft, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen und
ihnen ein neues Zuhause zu geben. Daher müssen den Bundesländern eigene
Aufnahmeprogramme ermöglicht werden.
Zugleich ist es auch dringend notwendig, in Deutschland lebenden Afghan*innen eine
sichere Perspektive zu bieten. Für viele bedeutet die Machtübernahme der Taliban, dass für
sie eine Rückkehr nach Afghanistan auf absehbare Zeit ausgeschlossen ist. Dies muss sich
auch in einer geänderten Anerkennungspraxis des BAMF niederschlagen. Zudem braucht es
einen generellen Abschiebungsstopp und eine Bleiberechtsregelung für diese Personen.


AWO Bundesverband
Im Januar 2022

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