Wir brauchen mehr Anwälte, die sich für die Kinder stark machen!

 

Dr. Ilse Wehrmann, die Sachverständige für Frühpädagogik, hat sich als Beraterin im Bereich der frühkindlichen Bildung in Politik und Wirtschaft einen Namen gemacht. Auf unserer Fachtagung in Linstow hielt sie das Hauptreferat. Die AWO … Info: sprach am Rande der Veranstaltung mit der streitbaren Anwältin für die Kinder:

Dr. Ilse Wehrmann berät bundesweit Unternehmen, die Politik und Träger von Kindertageseinrichtungen.Dr. Ilse Wehrmann berät bundesweit Unternehmen, die Politik und Träger von Kindertageseinrichtungen.

Frau Dr. Wehrmann: Kleine Kinder kann ja jeder erziehen, heißt es landläufig. Wirklich Geld für die Lehrenden wird erst für die Schulen und Hochschulen in die Hand genommen. Sie wollen die Bildungspyramide auf den Kopf stellen, warum ist Ihnen das so wichtig?

Ich glaube, weil die ersten sechs Jahre in der Entwicklung der Kinder bedeutsam sind. Wir in Deutschland haben gedacht, wir müssen in diesem Bereich nichts tun, und die Erkenntnisse der Forschung und Wissenschaft zeigen uns eigentlich, was wir hier versäumen. Gerade Kinder unter drei brauchen verlässliche Strukturen, gute Bezugspersonen, d.h. auch qualifiziertes Personal. Kinder lernen in diesen ersten Jahren Vertrauen, sie lernen Laufen, sich zu bewegen, die Welt zu erkunden. Auf wen kann ich mich verlassen, wer steht an meiner Seite? Für die Eroberung der Welt brauchen sie Zeit und gut ausgebildete Leute.

Das Gute-Kita-Gesetz ist heute thematisiert worden und auch die Beitragsfreiheit, die ab 2020 in MV umgesetzt wird. Für Sie nur ein erster Schritt?

Ja, absolut. Aber: Nur die, die es nicht bezahlen können, müssen jetzt auch nicht bezahlen, also begünstigen wir die, die es bezahlen könnten. Das Problem ist die Qualität in unseren Einrichtungen. Also: Erzieher-Kind-Schlüssel, Gruppenstärken usw. Da gibt es ein Nord-Süd und ein Ost-West-Gefälle. Es ist für mich nicht zu ertragen, dass Kinder in Schwerin andere Chancen haben, als Kinder in München. Solange wir solche Großbaustellen haben, können wir nicht akzeptieren, dass wir alle Kindergärten, Krippen und Horte beitragsfrei machen. Die Entwicklung von Kindern in den ersten sechs Jahren hängt im Moment von der Finanzkraft einer Kommune und dem Familienbild eines Bürgermeisters ab. Das kann und darf nicht sein. Der Bund muss dauerhaft finanzieren, möglich auch über einen Sozialfond. Das Geld müssen wir dann mit Qualitäts-Standards für alle Länder und Kommunen verpflichtend ausgeben.

Geld ist das Eine, um eine höhere Qualität in den Kitas erreichen zu können. Wie steht es mit der Qualitätskontrolle?

Keiner guckt auf die Qualität – das ist unmöglich! In der Automobilindustrie wäre das eine Lachnummer. Es ist das alte Lied: Je kleiner die Kinder, desto weniger ausgebildetes Personal, desto weniger brauchen wir an Geld auszugeben und genau das ist falsch! Andere Länder haben die Pyramide anders aufgebaut. Für die Kleinen - die bestausgebildetsten und bestbezahltesten Erzieher. Ein Studienrat baut auf dem auf, was in den ersten sechs Jahren an Grundlagen gelegt wurde und nicht umgekehrt und da fehlt in Deutschland der Paradigmenwechsel. Wir haben 16 verschiedene Bildungspläne - von 450 Seiten bis runter auf 25 Seiten – wir benötigen EINEN Bildungsplan und der muss eingehalten werden.

Es ist für mich nicht zu ertragen, dass Kinder in Schwerin andere Chancen haben, als Kinder in München.

Was den Personalschlüssel in den Kitas betrifft, steht MV bundesweit an letzter Stelle. Spitzenreiter sind wir, was den Anteil der Kinder in den Kitas betrifft, 94 % …

… ohne die neuen Bundesländer hätten wir nie einen Rechtsanspruch auf einen Kindergarten- oder Krippenplatz bekommen. Im Osten hatte Bildung immer einen anderen Stellenplatz gehabt. Das kann und muss man auch aus ideologischer Sicht kritisieren. Für heute bleibt: Wir müssen bei der Qualität nachlegen. Wir brauchen mehr Anwälte, die sich für die Kinder stark machen!